Trauern allein? – Erlebnis einer Krankenschwester

Schon oft war ich erstaunt darüber, wie spontan wir alle füreinander auf wichtige Weise da sind. Ob als Freund, Kollege, Familie oder auch als Pflegende: Menschlichkeit findet so oft im “Dazwischen” statt und das macht das Leben, wie ich finde, so schön. Besonders in dieser ungewöhnlichen Zeit sind diese Erlebnisse so wichtig.

Vor einiger Zeit führte mich eine Tour reichlich spät am Morgen zum Haus einer älteren Dame. Sie lebt allein und wird durch uns Pflegende und einen Nachbarschaftshelfer unterstützt. Ich ahnte schon, dass sie nicht mehr im Bett sein würde, wenn ich komme, aber in diesem Haus hatte mich bisher immer eine Überraschung erwartet. So auch heute: Nachdem das lange Klappern von meinem Schlüsselbund beendet war und drei Schlösser ordnungsgemäß auf- und wieder zugeschlossen waren, sah ich die kleine, weiß-gelockte Frau in ihrem Sessel weinen. Sie erzählte, dass ihr Ziehsohn gerade gestorben war. 

Dann folgte in Bruchstücken die Geschichte eines kleinen, lebendigen und sehr intelligenten Jungen, der im Krieg plötzlich ohne Eltern dastand. Sie selbst hatte keine Kinder und war freundlich zu ihm gewesen, so vertraute er ihr, und sie konnte ihn nicht enttäuschen. So war sie in kurzer Zeit von einer alleinstehenden jungen Frau, die überall half, wo Hilfe nötig war, zu einer „Mutter“ geworden.

Sie hatten nicht wirklich gewusst, worauf sie sich da einließ, wusste aber, dass man “Kinder nicht enttäuschen darf”. So nahmen die Dinge in der schwierigen Zeit ihren Lauf und sie tat ihr Bestes, um dem Jungen und sich selbst das Überleben und das Mensch-Sein zu ermöglichen. Sein Leben hatte in der Folge ihr Leben einschneidend verändert und auch sie als Mensch geprägt. Nun war es vorbei.

Sie hatte in den Jahrzehnten viele Stunden auf ihrem Sessel gesessen, aber heute war es ganz anders. Hin und her sprangen ihre Gedanken zwischen Geschichten von damals, dem Bild des kleinen Jungen, den sie auf ihrem Fahrrad mitnahm, und dem plötzlich wiederkehrenden Schmerz in ihrem Herzen. In jedem Moment, in dem ihr bewusst wurde, dass er nun gestorben war, liefen wieder die Tränen. Und sie war ganz allein mit alledem. 

“Weißt Du, mit dem Alter werden wir hart!” 

Niemand von damals war da und wahrscheinlich lebten auch sie schon nicht mehr. Ihr wurde auch dies so ganz plötzlich und krass bewusst. Gedanken wie: Wo bin ich jetzt? Wie macht all das einen Sinn? Warum war mein Leben so, wie es war? Wie kann es sein, dass er nun von mir genommen worden ist? Da waren immer noch die lebenslange Sorge und auch die Verbundenheit. Und jetzt? Einfach weg.

Ich sass vor ihr in Augenhöhe und hörte zu, fragte nach und hielt ihre Hand. Wir kannten uns eigentlich nicht gut genug für solche Intimität, aber es war sonst niemand da. Niemand! Niemand, der jetzt Zeit hat, niemand der nachfragt, niemand der Anteil nimmt, niemand der mitfühlt, niemand der nachdenken, sich erinnern, verarbeiten, niemand der sortieren und verstehen hilft. Einfach niemand! 

Ja, sie hatte schon viele Male in ihrem Leben getrauert und sie hatte schon viele Menschen verloren. Sie sagte „man wird mit zunehmendem Alter hart”. Ich fand, sie war tatsächlich in diesem Moment ganz weich. Und sie erinnerte sich an vieles: Dass er ohne sie wahrscheinlich nicht überlebt hätte, dass sie alles, was sie ihm je versprochen hatte, auch tatsächlich gehalten hatte, auch dann, wenn es sehr schwer gewesen war. Und sie hatte dies auch von ihm zurückbekommen.

Sie spürte wie sie mit ihrem eigenen Leben das seine ermöglicht, beschützt und geprägt hatte. Und nun war es zu Ende! Nun war nur noch sie da mit ihren Erinnerungen, mit einigen Fotos und auch mit der Frage wie ihr Leben ohne ihn gewesen wäre. Sie wiederholte dies mehrmals. 

Ich hörte ihr zu und wir weinten zusammen 

Ich hörte ihr zu, machte ihr einen Tee, schmierte ihr ein Brot, half ihr die Körperpflege zu beenden, fegte ein zerbrochenes Glas vom steinernen Küchenfußboden und war mit ihr an dem “Ort”, an dem wir alle sind, wenn wir trauern. Wir blickten uns an, weinten ein paar Tränen zusammen, waren still im Gedenken an den kleinen, intelligenten Jungen und die mutige junge Frau, deren Leben sich durch ihn damals plötzlich und unerwartet sehr verändert hatte. 

All das geschah in den wenigen Minuten, die uns für Grundpflege und Frühstück bereiten zugeschrieben waren. All dies wäre niemals möglich gewesen, wenn wir nicht in diesem Moment durch die Pflege zusammengekommen wären.

Anschließend klapperte ich wieder sehr lange mit den verschiedenen Schlüsseln und radelte dann, ein bisschen wie aus einer anderen Zeit kommend, auf meinem Rad weiter. Ich fragte mich: Wie verarbeiten unsere älteren Menschen diese Erlebnisse, wenn nicht zufällig jemand in einem solchen Moment hereinkommt?

Wir sind alle soziale Wesen und ich glaube, sie hat traurigerweise Recht, wenn sie sagt: “Weißt Du, mit dem Alter werden wir hart!” Und ich glaube, es passiert vor allem dann, wenn wir niemanden haben, der sich mit uns in einem solchen Moment menschlicher Reflexion und Trauer trifft. Für mich war es ein großes Geschenk, dass sie mir vertraute und mir erlaubte, ihren Schmerz, der ja eigentlich unser aller Schmerz ist, mit ihr zu teilen. 

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